Bauchgefühl im Sozialwesen

Jeder Sozialarbeiter kennt das aus dem Arbeitsalltag: Obwohl alle Fakten für eine Schlussfolgerung sprechen, hören wir manchmal eine leise Stimme, die ein Misstrauen gegen das Augenscheinliche ausspricht. Oder ein anderes Szenario: wir haben zwar keine rationalen Erklärungsmuster für unser Vorgehen, aber ein Bauchgefühl, das uns bei unserer Arbeit leitet. Im Sinne der Selbstwirksamkeit (als Faktor für Resilienz) ist es sinnvoll, sein eigenes Bauchgefühl zu verstehen.

In der Wissenschaft hat das Bauchgefühl nur wenig Bedeutung. Es scheint, als ob etwas, das nicht messbar wäre, keinen Wert hätte.

In einem Versuch, das Bauchgefühl zu erklären, ist es sinnvoll, die Wurzeln dieser Fähigkeit näher zu beleuchten. Diese bestehen (nach meiner aktuellen Einschätzung) aus hauptsächlich fünf Kompetenzen der sozialen Arbeit, die in ihrem Wechselspiel das Bauchgefühl zu generieren vermögen.

1. Alltagskompetenz (die Mensch – Mensch Expertise)

Das Leben stellt unterschiedliche Menschen vor nicht so unterschiedliche Herausforderungen. Die alltägliche Lebensbewältigung als persönliche Aufgabe eines Menschen unterstützt der Sozialarbeiter mit persönlicher Tatkraft: Ist der Klient in der Rolle als Hilfesuchender mit einer konkreten Aufgabe überfordert, kann die Sozialarbeiterin mit Lösungen dienen, die aus dem Repertoire des „gesunden Menschenverstands“ stammen (sofern nicht Fachwissen gefragt ist). Beispiele hierfür sind u.a. die Haushaltsplanung zur Finanzkonsolidierung bei Schulden, Beziehungsprobleme, Übergang Schule-Beruf, Sozialverwaltung und Steuer. Dieses Sachwissen kann in der klientelen Lebenswelt als Expertise gelten, da der Betreute mit seinem „Lack of knowledge“ von der Lebenserfahrung des Gegenübers profitieren kann, ohne dass der „Berater“ zwangsläufig eine Fachperson sein müsste. Umgekehrt befähigt diese Sachkompetenz den Sozialarbeiter zur Diagnostik. So ist es zum Beispiel möglich, aus den manifesten Problemstellungen Rückschlüsse über ihren Schweregrad, die prospektiven Lösungschancen sowie über die Coping-Mechanismen des Klienten zu ziehen.

2. Fachwissen (die Profi – Mensch Expertise)

Genauso gewähren unsere Fachexpertisen einen Blick auf die Lebenswelt des Klienten. Mit dem Wissen um Verwaltungsabläufe, sozialtherapeutische Kompetenzen sowie der Didaktik der Problemlagenbehebung erkennt der Sozialarbeiter in einem Entwicklungsprozess Indikatoren , die entweder günstig oder hemmend auf die soziale Genesung einwirken können. Beispiel: Wenn ein Klient sich weigert, Leistungen nach SGB II zu beantragen, weil er nicht „vom Staat abhängig“ sein will, ist ihm vielleicht nicht klar, dass er damit eventuell auch nicht krankenversichert ist. Auch hier erhält der Sozialarbeiter, zum Beispiel bei der Vorbereitung der Verbraucherinsolvenz (Therapie etc.) Einblicke in das Verhalten des Klienten, im Gegensatz zu obigen Ausführungen jedoch nicht in der Mensch-Dimension, sondern mit dem „Blick eines Profis“.

3. Arbeitsbeziehung (die Zwischen-Mensch Expertise)

Im ersten Kontakt mit dem Klienten beginnt die Arbeitsbeziehung. Von nun an wächst sie, und zwar auch dann, wenn der Klient sich nicht auf die Beziehung einzulassen scheint, indem er mit Widerständen, Neutralisierungen oder Abwehrmechanismen reagiert. Selbst der bloße Kontaktabbruch kann zum Ausbau der Verbindung führen, zum Beispiel dann, wenn sich der Klient aufgrund inneren Leidensdrucks wieder bei einem meldet. In der Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung, deren Prozess erst zum Ende einer Betreuung zum Abschluss kommt, lernt die Sozialarbeiterin den Klienten kennen – und umgekehrt (wenn auch nur in einem gewissen Rahmen). Jenes „sich Kennen“ ist es, das es einer Person ermöglicht, Vorhersagen über die Verhaltensweisen eines anderen Menschen zu machen. Ob in einer Liebesbeziehung oder im Rahmen einer Zusammenarbeit: Auf funktionaler Ebene laufen dieselben Prozesse ab: Vertrautheit schafft Empathie. Je mehr ich einen „Draht“ zu jemandem habe, desto besser gelingt mir eine Einschätzung über seine weiteren Schritte.

4. Sozialisation (die Umfeld-Mensch Expertise)

Trotz vielfältiger Lebenswelten- und bedingungen ist es auf soziokultureller Ebene möglich, allgemeingültige Sozialisationsfaktoren zu determinieren. Diese Faktoren treffen sowohl auf die Sozialisation des Klienten als auch auf die des Sozialarbeiters zu. Beide kennen beispielsweise folgende Prinzipien: Regeln der Gruppendynamik, Verantwortung für etwas zu haben oder Rückmeldung von anderen Menschen zu bekommen. Insofern gibt es, ähnlich zum Sachwissen eine Art Base-Layer, welche das „Sich aufeinander einlassen“ in der Arbeitsbeziehung wesentlich erleichtert. Der Sozialarbeiter kann hier aus seinem eigenen Erfahrungsrepertoire schöpfen, um eine Lebenssituation des Klienten zu beschreiben und zu analysieren.

5. Empathie (die Ich-Mensch Expertise)

Die Fähigkeit, sich auf den Klienten, seine Lebenswelt und Geschichte, seine Gefühle und Bewertungsmechanismen einzulassen (einzufühlen), gehört zu den exklusiven Kompetenzen der Sozialen Arbeit. Im Wechselspiel zwischen Übernahme der Sichtweise des Klienten und Selbstreflexion gelingt es dem Sozialarbeiter, Einschätzungen über mögliche Zukünfte zu treffen. Gemeint ist die Fähigkeit, eine fachliche Bewertung einer Situation an die Weltsicht des Klienten anzudocken, um so etwa Hemmfaktoren (z.B. Ängste) zu erkennen oder Rückschlüsse für die weitere Vorgehensweise bei der Zusammenarbeit zu ziehen.

Kristallkugel gefällig?

Das Bauchgefühl entsteht schließlich aus dem Zusammenspiel der aufgeführten Kompetenzen. Es ist nichts anderes als ein Bewertungsmechanismus, der sich aus einer vieldimensionalen Quelle speist. Aufgrund der Komplexität dieser Verknüpfungen liegt es auf der Hand, dass dieser Prozess nicht ohne weiteres wissenschaftlich erhoben werden kann. Auch eine Operationalisierung ist ausgeschlossen: Es wird sich kein „Tool“ ableiten lassen, mit dem man „effizient bauchfühlen“ kann. Allerdings glaube ich, dass es möglich ist, die eigene Fähigkeit zum Bauchgefühl zu verbessern. Neben der Entwicklung der oben genannten Punkte dürfte dabei vor allem die kritische Selbstreflexion, zum Beispiel im Rahmen einer Supervision, hilfreich sein. Ebenso wird die „Berufserfahrung“, also der Faktor Zeit, eine nicht unwesentliche Rolle spielen.